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15.05.2023

Der wertvolle Fremde

Warum ein einziger Fremder wertvoller sein kann als 1000 Freunde

In meinem Leben gab es immer 2 Konstanten. Zum einen meine Familie - mit gehangen mitgefangen :) .. und meine beste Freundin. Mit 6 Jahren haben wir uns im Kindergarten kennengelernt. Die Höhen und Tiefen unserer Leben lassen sich in einem einzigen Buch gar nicht zusammenfassen. Da ist wohl jedes Leben für sich ein Wälzer und Bestseller: Tragödie, Komödie, Krimi, Drehbuch… Solche Geschichten schreibt nur das Leben. Vielleicht kann man unsere “Werke” ja mal bei Thalia kaufen. Aber heute geht es nicht um diese ganz besondere Beziehung. Sondern im Grunde um das genaue Gegenteil.

Es war ein warmer Mai Tag..  Der 30. Mai um genau zu sein. Es war eine leere ziemlich unscheinbare, versteckte Bucht an einem Stausee. Ein Mittwoch, also keine Menschenseele weit und breit. Die Sonne fühlte sich wunderbar warm an auf der Haut. Es war noch nicht heiß genug um einen Schattenplatz zu brauchen. Einfach angenehm mit traumhaftem Ausblick auf den See und die Berge. Ab und zu ein kühler Windstoß. Ich genoss den freien Tag abseits von meinen persönlichen Dramen.

Nicht wirklich zufällig im Sinne von nicht geplant, ereignete sich doch einer der wunderbarsten Zufälle in meinem Leben, dort in dieser Bucht am 30. Mai. Ich begegnete einem Fremden.

Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht geahnt habe ist, dass mir dieser Fremde mein Leben retten würde. Dass er mich durch die schlimmsten Zeiten meines Lebens begleiten würde. Meine absoluten Tiefpunkte aushalten würde und sich so tief in mein Herz graben würde, wie noch niemand zuvor.

Was ich damit sagen will: Es gibt Zeiten im Leben, in denen man von Amateuren “austherapiert” ist.  Gut gemeinte Ratschläge von Familie und Freunden dringen nicht durch, oder sind schlicht und einfach falsch, weil man nicht verstanden wird. Die Vorträge kommen nicht mehr an, wirken bevormundend oder schlicht dumm.  Jedes Gespräch ist nur noch leer und fad, weil man in seiner Situation resigniert hat. Man ist gefangen in dem Konstrukt das man sich selbst erschaffen hat. Routine, Alltag, Arbeit, toxische Glaubenssätze, gesellschaftliche Zwänge und fehlende Selbstliebe zwingen einen in ein ungeliebtes Eck, in dem man glaubt zu ersticken.

Nun ist guter Rat teuer. Man braucht Hilfe. Doch was macht ein Therapeut in einer Gesprächstherapie jetzt? Er zeigt andere, neue Perspektiven auf, damit man wieder Wege erkennt, die gangbar sind. Wege, an die man nie gedacht hat oder die man sich selbst nie zugetraut hat.

Genau dieser Prozess begann bei mir an diesem 30. Mai. Nur war es nicht ein Therapeut, der mir andere Perspektiven und Möglichkeiten aufgezeigt hat, sondern dieser Fremde, dem ich begegnen durfte. Es war ein Gefühl von Unbeschwertheit und Leichtigkeit, das er mir gezeigt hat. Dass es nicht immer der schwerste Weg sein muss, den man gehen kann. Sondern auch sehr gerade und weniger steile Wege mit weniger Steinen, die wegzuräumen sind. Die wichtigste Lektion, die ich gelernt habe durch ihn, ist wohl im hier und jetzt zu leben. Man entscheidet sich für ein Abenteuer und denkt dabei nicht an morgen. Man muss nicht immer Pläne haben, weil auch Pläne Stress bedeuten.

Spontanität ist manchmal so wunderbar befreiend. Mein bisheriges  Leben war zwar nicht langweilig aber jeder Schritt wohl durchdacht und  bis ins Detail eingetaktet und fremdbestimmt. Damit man dieses erreicht, muss man jenes durchziehen - komme was wolle. Nicht zu wissen, was morgen passiert, war nicht vorstellbar. Heute weiß ich, dass alles vorstellbar ist. Aber nur deshalb, weil ich entschieden habe, mir andere, neue, fremde Wege zeigen zu lassen. Ohne diesen Perspektivenwechsel hätte mein Leben wohl einen - um es milde auszudrücken - weniger schönen Verlauf genommen..

Aus dieser zufälligen Begegnung wurde also einer der wertvollsten Menschen in meinem Leben. Aber nur, weil ich ihm die Chance gegeben habe in mein eingezwängtes, aber mental mehr als chaotisches Dasein hineinzuschnuppern. Ein kurzer Moment des Abwägens: Stehe ich auf und gehe, oder lasse ich es zu, dass dieser 30. Mai etwas besonderes werden könnte. Er könnte ein Tag mit einem guten Gespräch werden. Es könnte ein Tag werden, an dem ich etwas gelernt habe. Dieser Tag könnte aber auch 2 Leben verändern.

Niemand weiß, welches Schicksal auf einen wartet. Der größte Fehler, den man aber meiner Meinung nach machen kann ist seine Scheuklappen (die btw  immer wieder aufs neue wachsen) zu behalten.

Versucht kindliche, unbedarfte Neugier zu entwickeln. Jeder sagt “ich habe keine Vorurteile”, aber die meisten meinen “ich möchte niemand sein, der so wirkt, als hätte er Vorurteile”. Das sind 2 völlig unterschiedliche Einstellungen. Vorurteilsfrei ist kein Mensch. Zumindest ist mir noch keiner begegnet. Unterbewusst spielen im Umgang mit Fremden immer Erfahrung mit ein, die man mit ähnlichen Typen gemacht hat. Jemand passt nicht in deine gelebte Gesellschaftsschicht? Zu jung oder zu alt? Nicht dein Typ? Falscher Bekleidungsstil? Oder etwa Gott behüte Ausländer?? Denk an den Perspektivenwechsel. Dieser Mensch, der gerade vor dir steht, könnte potentiell dein Leben verändern. Durch seine Ideen, seine Lebenseinstellung, seine Lebenserfahrungen, seine vielleicht nicht offensichtliche Hilfsbereitschaft, seine unbedarfte Einstellung zu dir. Allein nur durch den Prozess des Kennenlernens entstehen oft ungeahnte Momente des Mitgefühls, man vergleicht sich, findet Unterschiede oder Gemeinsamkeiten und nimmt Lektionen für sich selbst daraus mit.

1000 Freunde hat niemand. Von mir aus hat man viele Bekannte. Ich bezeichne sehr wenige Menschen als meine Freunde. Und  einer davon ist der Fremde vom besagten 30. Mai. Freund & eingegraben in mein Herz für immer.

tb3005monkeybusiness♾️🐒